Übersee – Marquartstein
Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1877. Seit gut anderthalb Jahrzehnten konnte man vom Chiemsee aus mit dem Zug nach Salzburg fahren, etwas länger bereits nach München; seit wenigen Jahren sogar von Rosenheim aus auf dem kürzeren Weg über Grafing. Wenige Kilometer weiter westlich sollten schon bald die Orte Prien und Aschau mittels einer Vizinalbahn verbunden werden. Der Anschluss an das internationale Eisenbahnnetz lag also bildlich gesprochen im Vorgarten, aber eben noch nicht vor der Haustür. Die betroffenen Gemeinden schlossen sich 1877 mit dem Ziel zusammen, eine Vizinalbahn bis nach Unterwössen zu errichten. Treibende Kraft waren allen voran die Gemeinden südlich des späteren Endpunkts, also Ober- und Unterwössen, Reit im Winkel und Schleching. Das Projekt wäre aber wohl zu kostspielig geworden, weshalb die Pläne erst einmal wieder verworfen wurden. Drei Jahre später wurde seitens des Distriktrates Traunstein ein weiterer Versuch unternommen. Dieses Mal sollte die anvisierte Strecke bereits in Marquartstein enden und von der Firma Krauss & Cie in München errichtet und betrieben werden. Auch diese Pläne zerschlugen sich wieder. Am 28. April 1882 schließlich wurde das bayerische Lokalbahngesetz verabschiedet und so sah der Distriktrat erneut die Chance, Marquartstein an das bayerische Bahnnetz anzuschließen. Diesmal waren die Bemühungen von Erfolg gekrönt und so wurde die Errichtung einer Lokalbahn von Übersee nach Marquartstein Teil des Dotationsgesetzes von 1884.
Man muss sich vor Augen führen: Im April 1884 wurde das Gesetz zum Bau der Bahn verabschiedet und bereits 20 Monate später fuhr der Eröffnungszug! Die kurze Bauzeit war den geografischen Gegebenheiten geschuldet. Erdarbeiten waren kaum notwendig, Kunstbauten entfielen bis auf einige Durchlässe ebenfalls. Der Kies zum Unterbau wurde direkt der Tiroler Achen entnommen und musste so nicht von weitem angefahren werden. Die wenigen Hochbauten wurden in einfacher Bauart errichtet, der Oberbau wurde als Langschwellenoberbau ausgeführt. Nach nur vier Monaten Bauzeit konnte die Bahnlinie dem öffentlichen Verkehr übergeben werden.
Die überschaubaren Bau- und Betriebskosten in Verbindung mit dem hohen Güterverkehrsaufkommen führten schon bald zu einer hohen Verzinsung des Baukapitals. Mit über 9% war sie die am höchsten verzinste Lokalbahn im Jahr 1898! Zum Vergleich: Andere Strecken des Voralpenlandes lagen bei unter 5%. Die hohe Verzinsung trug dazu bei, dass sich die Gemeinden Ober- und Unterwössen sowie Reit im Winkel wieder zu Wort meldeten und nochmals den Anschluss an die Nebenbahn forderten. Ihre Bemühungen bleiben jedoch auch diesmal ohne Erfolg.
Ebenfalls positiv entwickelte sich der Personenverkehr. Bis zur Jahrhundertwende verkehrten täglich bis zu zehn Zugpaare, die neben der dritten Wagenklasse auch die zweite führten. Keine Selbstverständlichkeit auf bayerischen Nebenbahnen! Die frühe Bedeutung des touristischen Verkehrs kann auch daran abgelesen werden, dass einzelne Zugpaare nur zwischen Juni und August verkehrten. Die Fahrzeiten betrugen etwa 30 Minuten. Bis 1914 wurde die Anzahl der Zugpaare auf bis zu 14 erhöht, in den 1920er Jahren brach sie jedoch auf knapp die Hälfte wieder ein. Eine Erholung, oder auch künstliche Förderung des Verkehrs setzte in den 1930er Jahren ein, so dass die Anzahl der Zugpaare wieder auf 14 bis 16 anstieg. Sonderzüge der nationalsozialistischen Organisation „Kraft durch Freude“ brachten Urlauber in die Gegend.
Nach dem Krieg brach der Personenverkehr zunächst ein um dann alsbald wieder das Vorkriegsniveau zu erreichen. Mitte der 1950er Jahre wurde der Verkehr von Dampflok auf Schienenbus umgestellt, was einerseits zu deutlich kürzeren Fahrzeiten und andererseits zu einer weiteren Erhöhung der Zugfahrten führte. Doch bereits wenige Jahre später war die Bundesbahn nicht mehr mit den Fahrgastzahlen zufrieden. Zehn Jahre nach der Umstellung auf Schienenbusse stellte die Bundesbahn den Antrag auf Einstellung des Personenverkehrs beim bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr. Die Bundesbahn favorisierte die Umstellung auf Busverkehr und schlug dazu die Errichtung einer Buslinie auf der parallel verlaufenden Staatsstraße 2096 sowie der Bundesstraße 305 vor. Von diesem Vorschlag zeigte sich das Ministerium wegen des Ausbauzustandes der Straßen wenig begeistert. Die Bundesbahn zeigte sich von derlei Bedenken jedoch wenig beeindruckt und ging eine Stufe höher und beantragte 1966 beim Bundesministerium für Verkehr die Einstellung des Reisezugverkehrs, dem dann ein Jahr darauf auch zugestimmt wurde. Am 25. Mai 1968 verkehrte der letzte Schienenbus zwischen Übersee und Marquartstein.
Der Güterverkehr lief weiterhin gut, aber auch hier zogen schon dunkle Wolken am Horizont auf. Täglich zweimal wurde die Strecke von der Überseer Bahnhofs-Köf bedient. Zwei Jahre nach Einstellung des Personenverkehrs stellte die Bundesbahn auch den Stückgutverkehr ein. Der Wagenladungsverkehr lief einstweilen weiter, jedoch auf sinkendem Niveau.
Mitte der 1980er Jahre wurde die Straßenverkehrssituation auf der B305 und der St2096 immer unerträglicher und die Stimmen für einen Ausbau immer lauter. Die alte Bahnstrecke, auf der nur noch wenig Verkehr stattfand rückte so in den Fokus öffentlichen Wahrnehmung. Gleichzeitig stand die Bundesbahn vor der Entscheidung: Stilllegung oder Investition in die Erneuerung des Oberbaus? Man muss wohl nicht extra erwähnen, wofür sich die Verantwortlichen entschieden. Es dauerte jedoch nochmals drei Jahre, bis das bayerische Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr dem Wunsch nach Stilllegung zustimmte. Hatte man eventuell noch den Alleingang von Verkehrsministerium und Bundesbahn Ende der 1960er Jahre im Hinterkopf? Am 27. März 1992 verkehrte dann jedenfalls der letzte Güterzug; kurze Zeit später trug eine Überseer Firma die Schienen und den Oberbau ab, eine der rentabelsten Lokalbahnen Bayerns war damit Geschichte.
Der ehemalige Bahngrund fand schnell neue Besitzer. Die Staats- und die Bundesstraße wurde ausgebaut, in Staudach-Grassau entstand ein Kreisverkehr und eine neue Straßenführung. In Marquartstein gestaltete man den Platz um das Rathaus um. Deswegen finden sich nicht mehr ganz so deutliche Spuren wie von anderen Strecken. Im nördlichen Bereich ist der Bahndamm jedoch teils noch recht deutlich erhalten und gut begehbar. in Marquartstein erinnert seit 2002, 10 Jahre nach der Abfahrt des letzten Güterzuges, ein Prellbock an die einstige Bestimmung der Örtlichkeit.
Quellen:
- „Übersee – Marquartstein“ in Loseblattsammlung Neben- und Schmalspurbahnen in Deutschland, Wolf-Dieter Machel (Hrsg.), GeraNova Zeitschriftenverlag München
- Bahnstrecke Übersee – Marquartstein in der deutschsprachigen Wikipedia
- Sehenswerte Fotoserie auf der Seite der Gemeinde Übersee.
- „Die Eisenbahn in Übersee„, Chiemgaublätter, 12/2014, Alfred Vorac (pdf)
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